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Donnerstag, 15. August 2013

Vom Sinn des langsamen Reisens

Slow Travel ist nicht nur eine Art zu reisen, sondern vor allem eine Philosophie, eine Lebenseinstellung. Es geht um den erst aus der Entschleunigung entstehenden Genuss. Es geht um Bewusstsein, Achtsamkeit, Vereinfachung, Reduzierung auf das Wesentliche, weniger Stress und mehr Ausgeglichenheit. Es ist ein bewusster Ausstieg aus der allgegenwärtigen Rastlosigkeit und dem Geschwindigkeitswahn unserer Zeit. Kurz: eine bessere, weil bewusstere Art zu reisen, aber auch zu leben.

Der Weg ist das Ziel 


Langsam Reisende vermeiden Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge und andere Transportmittel, bei denen es nur darum geht so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Für die bewusst Reisenden zählt der Weg mehr als das Ziel. Meist haben sie keinen konkreten Plan, nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo es mal hingehen soll. Deshalb sind sie offen für alle Möglichkeiten, die sich auf ihrem Weg ergeben, für unerwartete Begebenheiten und spontane Bekanntschaften. Sie halten nicht stur an einem Plan fest, sondern lassen sich vom Leben leiten. Reisen in diesem Sinne bedeutet nicht, sich von A nach B zu bewegen. Es bedeutet sich auf den Weg zu begeben, ohne zu wissen wohin er führt. Das ursprüngliche Ziel kann sich während der Reise ändern, es kann verworfen oder erst über zahlreiche Umwege erreicht werden.
 
Das funktioniert nicht, wenn man einfach in ein Flugzeug steigt, um auf dem direkten und schnellsten Weg ans Ziel zu gelangen. In unserem Schneller-ist-immer-Besser-Wahn verpassen wir den wichtigsten Teil, ja wenn nicht sogar den eigentlichen Sinn der Reise: den Weg. Wir lassen uns nicht vom Leben, von unerwarteten Begebenheiten oder vom Schicksal, wie immer man es auch nennen möchte, leiten, sondern meinen, wir wüssten es selbst am besten, indem wir so schnell wie möglich ans Ziel preschen.

Für mich hatten Flugreisen schon immer etwas Unwirkliches. Wir quetschen uns mit einem Haufen Leute in diese fragile Aluminiumkiste und werden innerhalb weniger Stunden in einen völlig fremden Ort hineinkatapultiert. Jegliches Bewusstsein über die Strecke, die wir soeben zurückgelegt haben, geht verloren. Wir haben gar keine Zeit uns körperlich und geistig auf den neuen Ort einzustellen, uns ihm langsam anzunähern und allmählich mit ihm vertraut zu werden. Bewusst Grenzen zu überschreiten - kultureller, sprachlicher und politischer Natur. Wir büßen das Gefühl für die geographische Distanz sowie geologische und kulturelle Übergänge entlang des Weges ein. Vor allem aber entgehen uns zahlreichen Menschen mit ihren ganz eigenen Geschichten, die tief mit dem Ort an dem sie leben verknüpft sind.

Beliebte Transportmittel langsam, also bewusst Reisender sind alte Züge, die möglichst oft halten und sich langsam fortbewegen, damit die vorbeiziehende Gegend möglichst bewusst wahrgenommen werden kann. Auch regionale, von Einheimischen frequentierte Busse sind ein passendes Transportmittel, um sich den lokalen Gepflogenheiten anzupassen, authentische Menschen zu treffen und möglichst viel von der zurückgelegten Strecke mitzubekommen. Generell bevorzugen langsam Reisende altmodische Transportmittel: ein Segelschiff um den Ozean zu überqueren; auf dem Land gern auch einen Esel, ein Pferd oder ein Kamel, wenn es sich denn ergibt. Das langsame Reisen ist ein Loblied auf das Ungeplante. Wahrhaft Reisende nehmen dankbar an, was ihnen das Leben an Möglichkeiten anbietet. Gern bewegen sie sich aber auch aus eigener Kraft fort, mit dem Rad oder einfach nur den eigenen zwei Beinen.

Die Reise per Anhalter


Eine der verheißungsvollsten Formen der Fortbewegung ist jedoch das Reisen per Anhalter. Es ist die einfachste und direkteste Form mit dem Ort, seinen Menschen und Geschichten in Kontakt zu treten. Es ist auch eine wunderbare Möglichkeit die Sprache des Reiselandes zu lernen. Auf einer zweiwöchigen Reise durch Frankreich per Anhalter, hatte ich das Gefühl mehr von der Sprache gelernt zu haben als in sechs Jahren an der Schule. Sollten wir gar nichts von der Sprache des Reiselandes verstehen, lehrt uns das Trampen wie wenig Worte es braucht, um sich zu verständigen. Garantiert schnappt man aber durch diese Form des Reisens mehr Wörter der fremden Sprache auf, als auf jedem anderen Weg. Nicht zuletzt lehrt uns das Reisen per Anhalter, dass die Welt voller hilfsbereiter, freundlicher Menschen ist.
Indem wir per Anhalter reisen, geben wir die Kontrolle über die Geschwindigkeit der eigenen Fortbewegung auf. Wir passen uns dem Tempo des Lebens an und geben uns dem Ungeplanten hin. Demütig nehmen wir in Kauf, stundenlang, vielleicht sogar tagelang auf eine gute Seele zu warten, die uns eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Dabei vertrauen wir darauf, dass am Ende alles gut sein wird und wir den richtigen Menschen begegnen. Morgens wissen wir nicht, ob wir die Nacht an einem Autobahnrastplatz im Zelt verbringen werden oder vielleicht von einem Fahrer zu sich nach Hause eingeladen werden. Das Reisen per Anhalter lehrt uns Demut, Entschleunigung, Vertrauen, den Glauben an die Menschlichkeit unserer Mitmenschen und Hingabe an den Rhythmus des Lebens. Für mich ist es zweifelsohne die schönste und lehrreichste Art der Fortbewegung.

Wie außen, so auch innen: Eine Reise in die eigene Seele


Das langsame Reisen gleicht einer altmodischen Pilgerfahrt. Es ist nicht nur eine Reise im Außen, sondern vor allem auch eine Reise in die eigene Seele. Es ist eine Art spirituelle Reise, weil ihr wesentliches Ziel persönliches Wachstum ist. Sie ist nicht einfach eine Auszeit vom ungeliebten Alltag, sondern ein bedeutender Teil unseres ganz eigenen, individuellen Weges und der Suche nach dem guten Leben.



Das langsame, wahre Reisen ist alles andere als bequem. Denn es geht ja gerade darum die eigene Komfortzone zu verlassen. Das Credo wahrer Reisender lautet: „Life begins at the end of your comfort zone.“ Außerhalb unserer Komfortzone, nämlich außerhalb eingefahrener Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Ängste, können wir uns für die Magie und die Wunder des Lebens öffnen. Die Reise ist ein Mittel, um alte Muster zu überwinden und sich für Neues zu öffnen. Es geht darum zu erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist. Dadurch können Werte, die zuvor unser Leben bestimmt haben, ihre Gültigkeit verlieren. Wir begreifen, dass sie von der Gesellschaft und dem eigenen Ego diktiert werden und uns davon abhalten, ein glückliches Leben zu führen und so zu sein, wie wir wirklich sind. Im besten Fall kann uns das Reisen wieder auf den richtigen, nämlich unseren ganz eigenen, nicht fremdbestimmten Weg bringen. Es kann dabei helfen, uns unserer Berufung bewusst zu werden, anstatt es uns in der einlullenden Sicherheit eines langweiligen Jobs bequem zu machen.

Reisende verlassen die scheinbare Sicherheit eines gesellschaftlich vorgestanzten Lebens und begeben sich ins Ungewisse. Vielen Menschen macht das angst, weil es bedeutet, Kontrolle aufzugeben und Unsicherheit auszuhaltenDazu gehört Mut, vor allem aber Vertrauen. Vertrauen darin, dass jede Existenz einen ganz bestimmten Sinn im großen Ganzen erfüllt, der für die Welt von Bedeutung ist. Dass jedes ungelebte Leben dem Gesamtorganismus schadet und dass es daher das höchste Ziel jedes Individuums sein sollte, seine Begabung und Talente bestmöglich zu entfalten. Das bedeutet immer, sich auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben, ob physisch oder nicht. Das langsame Reisen ist nur ein Werkzeug, um die eigenen Werte und den Platz auf dieser Erde zu erkennen. Das ganze Leben ist eine Reise und niemand muss sich physisch auf eine weite Reise begeben, um den eigenen Lebensweg zu finden. Jedoch erfordert die Suche nach diesem Weg den Mut, den gesellschaftlich vorgegebenen, „sicheren“ Weg zu verlassen, eigene Ängste zu überwinden und Unsicherheit auszuhalten. Authentisches, langsames reisen trainiert diese Fähigkeit.




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