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Dienstag, 27. August 2013

The Journey of Life


"Der Mensch ist immer auf Entdeckungsreise gewesen, seit er zum ersten Mal den Drang verspürte, Afrika zu verlassen und sich auf der Welt zu verbreiten." Dan Kieran

Seit Urzeiten brechen Menschen auf, um fremde Orte zu entdecken. Ganz unterschiedliche Motive treiben uns seit jeher dazu, die Sicherheit der Heimat aufzugeben und uns dem Ungewissen auszusetzen. Sie sind sicher nicht immer nobel und reichen von Eroberung und Unterwerfung fremder Gebiete und Kulturen über Religion, Erwerb und Weitergabe von Bildung sowie Handel. Kaum jemand wäre in den vergangenen Jahrhunderten auf die Idee gekommen zwecks Entspannung oder Erholung zu verreisen, denn vor noch gar nicht allzu langer Zeit war das Reisen vor allem mühsam und beschwerlich. Das englische Wort ‚travel‘ stammt von dem französischen Wort für Arbeit ‚travail‘ ab. Dieses geht wiederum auf das lateinische Wort ‚trepalium‘ zurück, das ein dreizinkiges Folterinstrument bezeichnet. Die Wortherkunft verrät nur allzu deutlich, welche extremen Strapazen die frühen Reisenden in Kauf nahmen. Wer sich dieser „Folter“ aussetzte verfolgte ein ganz bestimmtes Ziel, z.B. Eroberung, aber auch ökonomisches oder persönliches Wachstum. Dieser Aspekt des Reisens als Teil der individuellen Entwicklung oder persönlichen Vervollkommnung, als Schule des Lebens, scheint dem modernen Reisen größtenteils abhandengekommen zu sein.

In unserer Gesellschaft sind Reisen immer öfter eine reine Handelsware, die als Trostpflaster für ein langweiliges Leben verkauft werden. Urlaub und Reiseerlebnisse trösten uns genauso wie Alkohol, Shopping, Partys, maßloses Essen und zwanghafter Sex über den ungeliebten, oft als sinnlos empfundenen Alltag hinweg. Es ist ein Wegrennen auf Zeit vor den eigenen Konflikten, Problemen und Schwierigkeiten. Auf diese Weise entfliehen wir der anstrengenden Aufgabe, uns mit uns selbst und dem Leben, das wir führen, auseinandersetzen. Den oft als leer und stumpfsinnig empfundenen Alltag könnten wir ohne diese regelmäßigen Auszeiten nicht bewältigen. Diese Form des Reisens hat ihre Daseinsberechtigung in einer Welt, in der das Arbeitsleben eine Qual ist und das wahre Leben erst nach Feierabend oder eben im Urlaub beginnt. Kann das aber ein gutes Leben sein?

„Anstatt uns dem komplizierten Projekt zu widmen, gut zu leben, neigen wir dazu, uns für ein Dasein in Arbeit und Langeweile zu entscheiden, das von hyperdynamischen Erlebnissen unterbrochen wird, die wir von einer Liste abhaken können.“ - Tom Hodgkinson

Im Gegensatz dazu können wir aber auch unser ganzes Leben als Reiseerfahrung betrachten. Der Begriff Reise bezeichnet nicht nur eine physische Fortbewegung, sondern kann auch metaphorisch für eine persönliche Entwicklung stehen und den Wandlungsprozess eines Menschen beschreiben. Die Reise ist dann ein Bild für das Leben eines Menschen, das die Persönlichkeitsformung zum Ziel hat. Da sie metaphorisch für unser Leben steht ist die physische Reise ein häufiges Motiv in Literatur und Kunst.

Joseph Campbell’s Heldenreise


Was haben Apoll, der Froschkönig, Wotan, Krimhild und Buddha gemeinsam? Ihre Geschichten verlaufen nach einem ähnlichen Muster und fußen auf einer Urgeschichte: der Reise des Helden. Diese Urgeschichte ist älter als Stonehenge oder die Pyramiden. Ihre strukturellen Elemente finden sich in mehr oder weniger ausgeprägter Form in allen Mythen, Sagen, Märchen und religiösen Geschichten der Welt. Das fand der US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell heraus, indem er zahllose Geschichten unterschiedlicher Kulturen und Zeiten sichtete und auf Gemeinsamkeiten abklopfte. Die einheitliche, archetypische Grundstruktur taufte er "Heldenreise". Es ist eine Geschichte mit der wir uns alle, egal woher wir kommen oder zu welcher Zeit wir leben, identifizieren können. Diese Gemeinsamkeit lässt auf die Allgemeingültigkeit bestimmter psychologischer Grundsituationen schließen, die alle Menschen durchlaufen. Man könnte sie als archetypische Geschichte des Lebens bezeichnen.

Kurz und knapp beschreibt Campbell die Heldenreise in seinem 1949 erstmals unter dem Titel The Hero With A Thousand Faces erschienen Werk:

„A hero ventures forth from the world of common day into a region of supernatural wonder: fabulous forces are there encountered and a decisive victory is won: the hero comes back from this mysterious adventure with the power to bestow boons on his fellow man.”

Die Heldenreise ist eine Geschichte der Transformation, der Initiation, des Erwachsenwerdens. Ein Individuum, der Heros, wird aus seiner vertrauten Umgebung geworfen oder gelockt. Nach anfänglichem Zögern begibt er sich auf eine Reise, seinem Herzen und seiner Intuition, oft auch der Ermutigung eines Mentors folgend. Unterwegs begegnen ihm Hindernisse, Proben, Verbündete und Feinde. Der Held nährt sich der äußersten Prüfung, die er bestehen muss, um die Belohnung zu erhalten. Daraufhin kehrt er geläutert und weiser in die Alltagswelt zurück, um den erworbenen Schatz oder das Lebenselixier, z.B. in Form von neuem Wissen, an seine Mitmenschen weiterzugeben.

Campbell zufolge spielt sich die Heldenreise im Kleinen im Leben jedes Individuums ab. Es geht darum das einzigartige Potential, welches jedem Menschen innewohnt, zu entfalten. Campbell ermutigte seine Leser und Zuhörerinnen, sich stets voll und ganz der Sache zu widmen, die uns am glücklichsten macht und dieser Sache – ganz egal, welche Hindernisse auftauchen – bedingungslos zu folgen. Campbell bringt das in der simplen Formel: „Follow your bliss“ auf den Punkt und fährt fort: „and the universe will open doors where there were only walls.“ Wenn wir unserer Freude bzw. unserem Herzen folgen geschehen magische Dinge. Wenn uns unsere Tätigkeiten mit wahrhafter Freude erfüllen, dann fühlen wir uns lebendig und das ist Campbell zufolge der Sinn des Lebens: dass wir uns lebendig fühlen, völlig im Einklang mit unserem Leben und den Tätigkeiten, denen wir uns widmen. 



Meist entspricht das, was uns mit der größten Freude erfüllt, unseren natürlichen Talenten und Anlagen. Wenn wir diesen folgen entgegen aller Ängste, Hindernisse und gesellschaftlichen Erwartungen können wir uns am Produktivesten in diese Welt einbringen. Jemand, der das lebt, wofür er oder sie brennt, ist immer erfolgreich und dem gelingt vieles. Campbell meinte, jeder Mensch habe eine besondere Begabung. Es kommt nur darauf an sie zu entdecken.

Die Mythen lehren uns auf dieser Suche, dass wir über unsere Grenzen, nämlich das was wir für möglich halten, hinausgehen sollten. Oft sind wir selbst unser größtes Hindernis. Unsere Ängste halten uns davon ab, uns zu verwirklichen. In den Mythen werden Ängste oft als Drachen dargestellt. Wenn wir diese erfolgreich bekämpfen, kann aus einem unbefriedigenden Dasein ein erfülltes Leben werden.

Der amerikanisch-japanische Filmemacher Patrick Takaya Solomon hat einen Film über die Heldenreise gedreht, der sehr eindringlich verdeutlicht, was sie für unser eigenes Leben bedeutet. Der Film ist 2011 unter dem Titel Finding Joe erschienen. Hier ist der Trailer der deutschen Version:



Individuation nach Carl Gustav Jung


Zweifelsohne war Campbell von der analytischen Psychologie seines Zeitgenossen Carl Gustav Jung beeinflusst. Dessen Konzept der Individuation zeigt deutliche Gemeinsamkeiten mit der Entwicklung des Helden auf seiner Reise.

Individuation nach Jung beschreibt den Prozess des Ganzwerdens zu etwas Einzigartigem, einem Individuum. Dieser Prozess beinhaltet die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten. Ziel des Individuationsprozess ist es, im Laufe des Lebens immer mehr der oder die zu werden, die wir eigentlich sind, immer echter, immer mehr wir selbst, immer stimmiger mit uns selbst. Dann, so Jung, sind wir gesund und erleben unser Leben als sinnvoll. Als Symbol für den Individuationsprozess verwendete Jung das Bild von einem Samen und dem daraus wachsendem Baum: Aus einer Eichel muss eine Eiche werden, sie kann sich nicht entscheiden, zu einer Buche zu werden. Ein Mensch hingegen kann aber etwas leben, das nicht zu ihm passt. Es bekommt aber den Wenigsten. Die Eichel wird sich, je nachdem wo sie hingefallen ist, anders entwickeln. Eine für sie gute Umgebung wird es ihr ermöglichen, zu einem stabilen Eichbaum zu werden. Erst die ausgewachsene Eiche - und das ist ein sehr langer Prozess - ist Ausdruck davon, was im Samen angelegt war.

Jung war der Erste, der eine Entwicklung bis zum Tod postulierte. Für ihn war der Individuationsprozess vor allem der Entwicklungsprozess in der zweiten Lebenshälfte. In der ersten Lebenshälfte verfolge der Mensch vor allem soziale Ziele: Beruf, Beziehung, Familie und Ansehen. Die einseitige Konzentration auf dieses Ziel, vor allem wenn sie sich in der zweiten Lebenshälfte fortsetzt, gehe aber auf Kosten der "Totalität der Persönlichkeit". In dieser Einseitigkeit sah Jung beispielsweise die Ursache für Depressionen. Dahinter vermutete er "Leben, das auch hätte gelebt werden können". Jung meinte, die Langlebigkeit der Menschen müsse einen Sinn haben, der "Lebensnachmittag" könnte nicht nur ein klägliches Anhängsel des Vormittags sein. Jung betrachtete den Individuationsprozess als einen lebenslangen, unvollendbaren Prozess mit einer stetigen Annährung an ein fernes Ziel, das Selbst, dessen letztendliche Grenze erst der Tod sei.

Der Mensch müsse also über das Verfolgen sozialer Ziele hinauswachsen, um ein ‚ganzer Mensch‘ zu werden. Ein Individuum also, das das in ihm angelegte Potential voll entfaltet und infolge dessen ein glückliches, sinnerfülltes Leben führt. Individuation erfordert häufig die Bewältigung eines Konflikts, da wir uns über die Normen und Wertevorstellungen anderer (z.B. der Eltern) hinwegsetzen und zu eigenen Werten und Normen finden müssen. In diesem Prozess müssen wir die Erwartungen anderer enttäuschen, Verbote übertreten und ungesunde Anpassung überwinden.

Ein sehenswerter Film, der Jung’s Konzept der Individuation am ‚Lebensnachmittag‘ umsetzt ist The Shift – From Ambition to Meaning. Den Film kann man sowohl in der englischen Originalfassung als auch in deutscher Synchronisierung kostenlos im Internet anschauen.
Hier der Trailer, den es leider nur auf Englisch gibt:


Und der ganze Film auf Deutsch:



Die Reise als Entwicklungsprozess


Was bedeuten diese Konzepte nun für das Reisen, insbesondere das langsame Reisen?

Wenn wir das Reisen nicht einfach als einen bestimmten Zeitraum betrachten, den wir als Jahresurlaub bezeichnen und der einzig dem Zweck dient, uns von unserem anstrengenden, weil als sinnlos empfundenen Alltag zu erholen oder abzulenken, dann kann das Reisen zu einem integralen Teil unseres ganz persönlichen Lebensweges werden. Es kann uns dabei helfen zu einem gesunden Ganzen, einem einzigartigen Individuum zu werden. Wenn wir uns auf eine wirklich intensive Reise begeben, die auch eine angemessen lange Zeitspanne umfasst, dann gewinnen wir Abstand zu dem Leben, das wir führen und können besser erkennen, ob das wirklich unser Leben ist oder ob wir bisher nur gelebt haben, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Wir können unsere Werte überprüfen und uns fragen, ob sie dazu beitragen ein wirklich glückliches, sinnerfülltes Leben zu führen. Wir können schauen, wie Menschen in anderen Teilen der Welt leben, nach welchen Werten sie leben und uns davon inspirieren lassen.

Außerdem hilft uns das Reisen dabei, mehr im Augenblick zu leben und die Umwelt bewusster wahrzunehmen. In unserem gewohnten Umfeld neigen wir oft dazu, automatisch zu funktionieren und uns für die kleinen und großen Wunder, die ständig um uns herum geschehen, zu verschließen. Das langsame und bewusste Reisen kann uns die Faszination für das Leben wiedergeben. In einer fremden Umgebung sind wir viel aufmerksamer, nehmen alles intensiver wahr und können wie kleine Kinder über das Wunder Leben staunen. Auf diese Weise entdecken wir die Neugier für das Leben wieder. Wir werden uns auch bewusster über uns selbst, unsere eigenen Hoffnungen und Wünsche. Längst vergessene Träume gelangen so wieder an die Oberfläche. Die Distanz hilft zu begreifen, was uns im Leben wirklich wichtig ist und ein wenig mehr zu verstehen, wer wir wirklich sind und warum wir hier sind. Es ist faszinierend, was ein geschärftes Bewusstsein aufgrund der veränderten, ungewohnten Umgebung bewirken kann. Wenn wir ganz großes Glück haben, können wir die wiedergewonnene Faszination, Neugier und Bewunderung für das Leben auch nach der Rückkehr beibehalten. Das sollte auch das Ziel sein, denn die meisten von uns können und wollen nicht immer unterwegs sein, nicht ständig mit Neuem konfrontiert werden. Und was am Anfang neu und aufregend ist, wird irgendwann auch ermüdende Routine.

Das Reisen ist also insbesondere dann hilfreich, wenn wir uns in unserem Leben festgefahren fühlen und nicht genau wissen, wie wir unsere Situation verändern können und was genau wir eigentlich wollen. Für die meisten Menschen ist das auch meist der Anlass für eine längere Reise. Intuitiv ahnen wir, dass uns der Abstand am ehesten weiterhelfen und unsere Fragen beantworten wird. Nicht umsonst ist die Heldenreise ein so beliebtes Motiv in den Geschichten der unterschiedlichsten Kulturen rund um den Globus. Wir alle identifizieren uns mit ihr und wünschen uns, unsere tiefsten Ängste zu überwinden, um unser volles Potential zu entfalten. Die physische Reise ist dabei so hilfreich, weil sie uns zwingt, unser gewohntes Umfeld, unseren natürlichen „Sicherheitsbereich“ zu verlassen. Oftmals erfordert eine lange Reise, bestimmte Sicherheiten, z.B. den Job, aufzugeben. Häufig begeben wir uns allein auf den Weg, was außerdem die beste und sicherste Methode ist, um sich wirklich weiterzuentwickeln und mehr über sich selbst zu erfahren. Das erfordert Mut. Aber ich glaube, dass uns das Leben für diesen Mut, die Überwindung unserer Ängste immer belohnt. Wenn wir ein kleines bisschen Mut aufbringen und über unseren eigenen Schatten springen, wird uns das Leben doppelt und dreifach dafür belohnen. Zumindest ist das die Erfahrung, die ich vor allem mit dem allein reisen bisher gemacht habe. Ich habe es allerdings nie als Mut empfunden, sondern als Vertrauen. Ein tief verankertes Urvertrauen, dass mich das Leben belohnen wird, wenn ich meiner Intuition und meinem Herzen folge. Und so war es auch.

Ich glaube, gerade wenn wir mit einer ganz bestimmten Intention reisen, z.B. die Antwort auf eine konkrete Frage suchen, haben wir die besten Chancen fündig zu werden. Denn wenn wir einer ganz bestimmten Absicht folgen, werden wir Dinge, die damit in Verbindung stehen, anziehen. Wir werden Personen begegnen, die uns neue Perspektiven auf das Gesuchte ermöglichen und Erfahrungen machen, die uns neue Aspekte unserer Frage aufzeigen. Vielleicht haben wir am Ende keine eindeutige Antwort, aber doch eine neue, frische Sicht auf das Gesuchte und zahlreiche Einsichten, auf die wir vorher nicht gekommen wären.



Donnerstag, 15. August 2013

Vom Sinn des langsamen Reisens

Slow Travel ist nicht nur eine Art zu reisen, sondern vor allem eine Philosophie, eine Lebenseinstellung. Es geht um den erst aus der Entschleunigung entstehenden Genuss. Es geht um Bewusstsein, Achtsamkeit, Vereinfachung, Reduzierung auf das Wesentliche, weniger Stress und mehr Ausgeglichenheit. Es ist ein bewusster Ausstieg aus der allgegenwärtigen Rastlosigkeit und dem Geschwindigkeitswahn unserer Zeit. Kurz: eine bessere, weil bewusstere Art zu reisen, aber auch zu leben.

Der Weg ist das Ziel 


Langsam Reisende vermeiden Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge und andere Transportmittel, bei denen es nur darum geht so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Für die bewusst Reisenden zählt der Weg mehr als das Ziel. Meist haben sie keinen konkreten Plan, nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo es mal hingehen soll. Deshalb sind sie offen für alle Möglichkeiten, die sich auf ihrem Weg ergeben, für unerwartete Begebenheiten und spontane Bekanntschaften. Sie halten nicht stur an einem Plan fest, sondern lassen sich vom Leben leiten. Reisen in diesem Sinne bedeutet nicht, sich von A nach B zu bewegen. Es bedeutet sich auf den Weg zu begeben, ohne zu wissen wohin er führt. Das ursprüngliche Ziel kann sich während der Reise ändern, es kann verworfen oder erst über zahlreiche Umwege erreicht werden.
 
Das funktioniert nicht, wenn man einfach in ein Flugzeug steigt, um auf dem direkten und schnellsten Weg ans Ziel zu gelangen. In unserem Schneller-ist-immer-Besser-Wahn verpassen wir den wichtigsten Teil, ja wenn nicht sogar den eigentlichen Sinn der Reise: den Weg. Wir lassen uns nicht vom Leben, von unerwarteten Begebenheiten oder vom Schicksal, wie immer man es auch nennen möchte, leiten, sondern meinen, wir wüssten es selbst am besten, indem wir so schnell wie möglich ans Ziel preschen.

Für mich hatten Flugreisen schon immer etwas Unwirkliches. Wir quetschen uns mit einem Haufen Leute in diese fragile Aluminiumkiste und werden innerhalb weniger Stunden in einen völlig fremden Ort hineinkatapultiert. Jegliches Bewusstsein über die Strecke, die wir soeben zurückgelegt haben, geht verloren. Wir haben gar keine Zeit uns körperlich und geistig auf den neuen Ort einzustellen, uns ihm langsam anzunähern und allmählich mit ihm vertraut zu werden. Bewusst Grenzen zu überschreiten - kultureller, sprachlicher und politischer Natur. Wir büßen das Gefühl für die geographische Distanz sowie geologische und kulturelle Übergänge entlang des Weges ein. Vor allem aber entgehen uns zahlreichen Menschen mit ihren ganz eigenen Geschichten, die tief mit dem Ort an dem sie leben verknüpft sind.

Beliebte Transportmittel langsam, also bewusst Reisender sind alte Züge, die möglichst oft halten und sich langsam fortbewegen, damit die vorbeiziehende Gegend möglichst bewusst wahrgenommen werden kann. Auch regionale, von Einheimischen frequentierte Busse sind ein passendes Transportmittel, um sich den lokalen Gepflogenheiten anzupassen, authentische Menschen zu treffen und möglichst viel von der zurückgelegten Strecke mitzubekommen. Generell bevorzugen langsam Reisende altmodische Transportmittel: ein Segelschiff um den Ozean zu überqueren; auf dem Land gern auch einen Esel, ein Pferd oder ein Kamel, wenn es sich denn ergibt. Das langsame Reisen ist ein Loblied auf das Ungeplante. Wahrhaft Reisende nehmen dankbar an, was ihnen das Leben an Möglichkeiten anbietet. Gern bewegen sie sich aber auch aus eigener Kraft fort, mit dem Rad oder einfach nur den eigenen zwei Beinen.

Die Reise per Anhalter


Eine der verheißungsvollsten Formen der Fortbewegung ist jedoch das Reisen per Anhalter. Es ist die einfachste und direkteste Form mit dem Ort, seinen Menschen und Geschichten in Kontakt zu treten. Es ist auch eine wunderbare Möglichkeit die Sprache des Reiselandes zu lernen. Auf einer zweiwöchigen Reise durch Frankreich per Anhalter, hatte ich das Gefühl mehr von der Sprache gelernt zu haben als in sechs Jahren an der Schule. Sollten wir gar nichts von der Sprache des Reiselandes verstehen, lehrt uns das Trampen wie wenig Worte es braucht, um sich zu verständigen. Garantiert schnappt man aber durch diese Form des Reisens mehr Wörter der fremden Sprache auf, als auf jedem anderen Weg. Nicht zuletzt lehrt uns das Reisen per Anhalter, dass die Welt voller hilfsbereiter, freundlicher Menschen ist.
Indem wir per Anhalter reisen, geben wir die Kontrolle über die Geschwindigkeit der eigenen Fortbewegung auf. Wir passen uns dem Tempo des Lebens an und geben uns dem Ungeplanten hin. Demütig nehmen wir in Kauf, stundenlang, vielleicht sogar tagelang auf eine gute Seele zu warten, die uns eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Dabei vertrauen wir darauf, dass am Ende alles gut sein wird und wir den richtigen Menschen begegnen. Morgens wissen wir nicht, ob wir die Nacht an einem Autobahnrastplatz im Zelt verbringen werden oder vielleicht von einem Fahrer zu sich nach Hause eingeladen werden. Das Reisen per Anhalter lehrt uns Demut, Entschleunigung, Vertrauen, den Glauben an die Menschlichkeit unserer Mitmenschen und Hingabe an den Rhythmus des Lebens. Für mich ist es zweifelsohne die schönste und lehrreichste Art der Fortbewegung.

Wie außen, so auch innen: Eine Reise in die eigene Seele


Das langsame Reisen gleicht einer altmodischen Pilgerfahrt. Es ist nicht nur eine Reise im Außen, sondern vor allem auch eine Reise in die eigene Seele. Es ist eine Art spirituelle Reise, weil ihr wesentliches Ziel persönliches Wachstum ist. Sie ist nicht einfach eine Auszeit vom ungeliebten Alltag, sondern ein bedeutender Teil unseres ganz eigenen, individuellen Weges und der Suche nach dem guten Leben.



Das langsame, wahre Reisen ist alles andere als bequem. Denn es geht ja gerade darum die eigene Komfortzone zu verlassen. Das Credo wahrer Reisender lautet: „Life begins at the end of your comfort zone.“ Außerhalb unserer Komfortzone, nämlich außerhalb eingefahrener Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Ängste, können wir uns für die Magie und die Wunder des Lebens öffnen. Die Reise ist ein Mittel, um alte Muster zu überwinden und sich für Neues zu öffnen. Es geht darum zu erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist. Dadurch können Werte, die zuvor unser Leben bestimmt haben, ihre Gültigkeit verlieren. Wir begreifen, dass sie von der Gesellschaft und dem eigenen Ego diktiert werden und uns davon abhalten, ein glückliches Leben zu führen und so zu sein, wie wir wirklich sind. Im besten Fall kann uns das Reisen wieder auf den richtigen, nämlich unseren ganz eigenen, nicht fremdbestimmten Weg bringen. Es kann dabei helfen, uns unserer Berufung bewusst zu werden, anstatt es uns in der einlullenden Sicherheit eines langweiligen Jobs bequem zu machen.

Reisende verlassen die scheinbare Sicherheit eines gesellschaftlich vorgestanzten Lebens und begeben sich ins Ungewisse. Vielen Menschen macht das angst, weil es bedeutet, Kontrolle aufzugeben und Unsicherheit auszuhaltenDazu gehört Mut, vor allem aber Vertrauen. Vertrauen darin, dass jede Existenz einen ganz bestimmten Sinn im großen Ganzen erfüllt, der für die Welt von Bedeutung ist. Dass jedes ungelebte Leben dem Gesamtorganismus schadet und dass es daher das höchste Ziel jedes Individuums sein sollte, seine Begabung und Talente bestmöglich zu entfalten. Das bedeutet immer, sich auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben, ob physisch oder nicht. Das langsame Reisen ist nur ein Werkzeug, um die eigenen Werte und den Platz auf dieser Erde zu erkennen. Das ganze Leben ist eine Reise und niemand muss sich physisch auf eine weite Reise begeben, um den eigenen Lebensweg zu finden. Jedoch erfordert die Suche nach diesem Weg den Mut, den gesellschaftlich vorgegebenen, „sicheren“ Weg zu verlassen, eigene Ängste zu überwinden und Unsicherheit auszuhalten. Authentisches, langsames reisen trainiert diese Fähigkeit.