"Der Mensch ist immer auf Entdeckungsreise gewesen, seit er zum ersten Mal den Drang verspürte, Afrika zu verlassen und sich auf der Welt zu verbreiten." Dan Kieran
Seit Urzeiten brechen Menschen auf, um fremde Orte zu entdecken. Ganz unterschiedliche Motive treiben uns seit jeher dazu, die Sicherheit der Heimat aufzugeben und uns dem Ungewissen auszusetzen. Sie sind sicher nicht immer nobel und reichen von Eroberung und Unterwerfung fremder Gebiete und Kulturen über Religion, Erwerb und Weitergabe von Bildung sowie Handel. Kaum jemand wäre in den vergangenen Jahrhunderten auf die Idee gekommen zwecks Entspannung oder Erholung zu verreisen, denn vor noch gar nicht allzu langer Zeit war das Reisen vor allem mühsam und beschwerlich. Das englische Wort ‚travel‘ stammt von dem französischen Wort für Arbeit ‚travail‘ ab. Dieses geht wiederum auf das lateinische Wort ‚trepalium‘ zurück, das ein dreizinkiges Folterinstrument bezeichnet. Die Wortherkunft verrät nur allzu deutlich, welche extremen Strapazen die frühen Reisenden in Kauf nahmen. Wer sich dieser „Folter“ aussetzte verfolgte ein ganz bestimmtes Ziel, z.B. Eroberung, aber auch ökonomisches oder persönliches Wachstum. Dieser Aspekt des Reisens als Teil der individuellen Entwicklung oder persönlichen Vervollkommnung, als Schule des Lebens, scheint dem modernen Reisen größtenteils abhandengekommen zu sein.
In unserer Gesellschaft sind Reisen immer öfter eine reine Handelsware,
die als Trostpflaster für ein langweiliges Leben verkauft werden. Urlaub und
Reiseerlebnisse trösten uns genauso wie Alkohol, Shopping, Partys, maßloses
Essen und zwanghafter Sex über den ungeliebten, oft als sinnlos empfundenen
Alltag hinweg. Es ist ein Wegrennen auf Zeit vor den eigenen Konflikten,
Problemen und Schwierigkeiten. Auf diese Weise entfliehen wir der anstrengenden
Aufgabe, uns mit uns selbst und dem Leben, das wir führen, auseinandersetzen.
Den oft als leer und stumpfsinnig empfundenen Alltag könnten wir ohne diese
regelmäßigen Auszeiten nicht bewältigen. Diese Form des Reisens hat ihre
Daseinsberechtigung in einer Welt, in der das Arbeitsleben eine Qual ist und
das wahre Leben erst nach Feierabend oder eben im Urlaub beginnt. Kann das aber
ein gutes Leben sein?
„Anstatt uns dem komplizierten Projekt zu widmen, gut zu leben, neigen wir dazu, uns für ein Dasein in Arbeit und Langeweile zu entscheiden, das von hyperdynamischen Erlebnissen unterbrochen wird, die wir von einer Liste abhaken können.“ - Tom Hodgkinson
Im Gegensatz dazu können wir aber auch unser ganzes Leben
als Reiseerfahrung betrachten. Der Begriff Reise
bezeichnet nicht nur eine physische Fortbewegung, sondern kann auch
metaphorisch für eine persönliche Entwicklung stehen und den Wandlungsprozess eines Menschen beschreiben. Die Reise ist dann ein Bild für das Leben
eines Menschen, das die Persönlichkeitsformung zum Ziel hat. Da sie
metaphorisch für unser Leben steht ist die physische Reise ein häufiges Motiv
in Literatur und Kunst.
Joseph Campbell’s Heldenreise
Was haben Apoll, der Froschkönig, Wotan, Krimhild und Buddha gemeinsam? Ihre Geschichten verlaufen nach einem ähnlichen Muster und fußen auf einer Urgeschichte: der Reise des Helden. Diese Urgeschichte ist älter als Stonehenge oder die Pyramiden. Ihre strukturellen Elemente finden sich in mehr oder weniger ausgeprägter Form in allen Mythen, Sagen, Märchen und religiösen Geschichten der Welt. Das fand der
US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell heraus, indem er zahllose Geschichten unterschiedlicher Kulturen und Zeiten sichtete und auf Gemeinsamkeiten abklopfte. Die einheitliche, archetypische Grundstruktur taufte er "Heldenreise". Es ist eine
Geschichte mit der wir uns alle, egal woher wir kommen oder zu welcher Zeit wir
leben, identifizieren können. Diese Gemeinsamkeit lässt auf die
Allgemeingültigkeit bestimmter psychologischer Grundsituationen schließen, die
alle Menschen durchlaufen. Man könnte sie als archetypische Geschichte des
Lebens bezeichnen.
Kurz und knapp beschreibt Campbell
die Heldenreise in seinem 1949 erstmals unter dem Titel The Hero With A
Thousand Faces erschienen Werk:
„A hero ventures forth from the world of common day into a region of supernatural wonder: fabulous forces are there encountered and a decisive victory is won: the hero comes back from this mysterious adventure with the power to bestow boons on his fellow man.”
Die Heldenreise ist eine Geschichte der Transformation, der
Initiation, des Erwachsenwerdens. Ein Individuum, der Heros, wird aus seiner
vertrauten Umgebung geworfen oder gelockt. Nach anfänglichem Zögern begibt er sich auf eine Reise,
seinem Herzen und seiner Intuition, oft auch der Ermutigung eines Mentors folgend. Unterwegs begegnen ihm Hindernisse, Proben, Verbündete und Feinde. Der Held nährt sich der äußersten Prüfung, die er bestehen muss, um die Belohnung zu erhalten. Daraufhin kehrt er geläutert und weiser in die Alltagswelt zurück, um den erworbenen Schatz oder das Lebenselixier, z.B. in Form von neuem Wissen, an seine Mitmenschen weiterzugeben.
Campbell zufolge spielt sich die
Heldenreise im Kleinen im Leben jedes Individuums ab. Es geht darum das
einzigartige Potential, welches jedem Menschen innewohnt, zu entfalten.
Campbell ermutigte seine Leser und Zuhörerinnen, sich stets voll und ganz der
Sache zu widmen, die uns am glücklichsten macht und dieser Sache – ganz egal,
welche Hindernisse auftauchen – bedingungslos zu folgen. Campbell bringt das in der simplen
Formel: „Follow your bliss“ auf den Punkt und fährt fort: „and the universe
will open doors where there were only walls.“ Wenn wir unserer Freude
bzw. unserem Herzen folgen geschehen magische Dinge. Wenn uns unsere
Tätigkeiten mit wahrhafter Freude erfüllen, dann fühlen wir uns lebendig und
das ist Campbell zufolge der Sinn des Lebens: dass wir uns lebendig fühlen, völlig im Einklang mit unserem Leben und den Tätigkeiten, denen wir uns widmen.
Meist entspricht das, was uns mit der
größten Freude erfüllt, unseren natürlichen Talenten und Anlagen. Wenn wir
diesen folgen entgegen aller Ängste, Hindernisse und gesellschaftlichen
Erwartungen können wir uns am Produktivesten in diese Welt einbringen. Jemand, der
das lebt, wofür er oder sie brennt, ist immer erfolgreich und dem gelingt vieles.
Campbell meinte, jeder Mensch habe eine besondere Begabung. Es kommt nur darauf
an sie zu entdecken.
Die Mythen lehren uns auf dieser Suche,
dass wir über unsere Grenzen, nämlich das was wir für möglich halten, hinausgehen
sollten. Oft sind wir selbst unser größtes Hindernis. Unsere Ängste halten uns
davon ab, uns zu verwirklichen. In den Mythen werden Ängste oft als Drachen
dargestellt. Wenn wir diese erfolgreich bekämpfen, kann aus einem
unbefriedigenden Dasein ein erfülltes Leben werden.
Der amerikanisch-japanische Filmemacher Patrick Takaya Solomon hat einen Film
über die Heldenreise gedreht, der sehr eindringlich verdeutlicht, was sie für unser
eigenes Leben bedeutet. Der Film ist 2011 unter dem Titel Finding Joe erschienen. Hier ist der Trailer der deutschen Version:
Individuation nach Carl Gustav Jung
Zweifelsohne war Campbell von der
analytischen Psychologie seines Zeitgenossen Carl Gustav Jung beeinflusst.
Dessen Konzept der Individuation zeigt deutliche Gemeinsamkeiten mit der
Entwicklung des Helden auf seiner Reise.
Individuation nach Jung beschreibt den
Prozess des Ganzwerdens zu etwas Einzigartigem, einem Individuum. Dieser
Prozess beinhaltet die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, Anlagen und
Möglichkeiten. Ziel des Individuationsprozess ist es, im Laufe des Lebens immer
mehr der oder die zu werden, die wir eigentlich sind, immer echter, immer mehr
wir selbst, immer stimmiger mit uns selbst. Dann, so Jung, sind wir gesund und
erleben unser Leben als sinnvoll. Als Symbol für den Individuationsprozess verwendete
Jung das Bild von einem Samen und dem daraus wachsendem Baum: Aus einer Eichel
muss eine Eiche werden, sie kann sich nicht entscheiden, zu einer Buche zu
werden. Ein Mensch hingegen kann aber etwas leben, das nicht zu ihm passt. Es
bekommt aber den Wenigsten. Die Eichel wird sich, je nachdem wo sie hingefallen
ist, anders entwickeln. Eine für sie gute Umgebung wird es ihr ermöglichen, zu
einem stabilen Eichbaum zu werden. Erst die ausgewachsene Eiche - und das ist
ein sehr langer Prozess - ist Ausdruck davon, was im Samen angelegt war.
Jung war der Erste, der eine Entwicklung
bis zum Tod postulierte. Für ihn war der Individuationsprozess vor allem der
Entwicklungsprozess in der zweiten Lebenshälfte. In der ersten Lebenshälfte verfolge
der Mensch vor allem soziale Ziele: Beruf, Beziehung, Familie und Ansehen. Die
einseitige Konzentration auf dieses Ziel, vor allem wenn sie sich in der
zweiten Lebenshälfte fortsetzt, gehe aber auf Kosten der "Totalität der
Persönlichkeit". In dieser Einseitigkeit sah Jung beispielsweise die
Ursache für Depressionen. Dahinter vermutete er
"Leben, das auch hätte gelebt werden können". Jung meinte, die
Langlebigkeit der Menschen müsse einen Sinn haben, der
"Lebensnachmittag" könnte nicht nur ein klägliches Anhängsel des
Vormittags sein. Jung betrachtete den Individuationsprozess als einen
lebenslangen, unvollendbaren Prozess mit einer stetigen Annährung an ein fernes
Ziel, das Selbst, dessen letztendliche Grenze erst der Tod sei.
Der Mensch müsse also über das Verfolgen sozialer Ziele hinauswachsen, um ein ‚ganzer Mensch‘ zu werden. Ein Individuum also, das das in ihm angelegte Potential voll entfaltet und infolge dessen ein glückliches, sinnerfülltes Leben führt. Individuation erfordert häufig die Bewältigung eines Konflikts, da wir uns über die Normen und Wertevorstellungen anderer (z.B. der Eltern) hinwegsetzen und zu eigenen Werten und Normen finden müssen. In diesem Prozess müssen wir die Erwartungen anderer enttäuschen, Verbote übertreten und ungesunde Anpassung überwinden.
Der Mensch müsse also über das Verfolgen sozialer Ziele hinauswachsen, um ein ‚ganzer Mensch‘ zu werden. Ein Individuum also, das das in ihm angelegte Potential voll entfaltet und infolge dessen ein glückliches, sinnerfülltes Leben führt. Individuation erfordert häufig die Bewältigung eines Konflikts, da wir uns über die Normen und Wertevorstellungen anderer (z.B. der Eltern) hinwegsetzen und zu eigenen Werten und Normen finden müssen. In diesem Prozess müssen wir die Erwartungen anderer enttäuschen, Verbote übertreten und ungesunde Anpassung überwinden.
Ein sehenswerter Film, der Jung’s Konzept der Individuation
am ‚Lebensnachmittag‘ umsetzt ist The Shift
– From Ambition to Meaning. Den Film kann man sowohl in der englischen
Originalfassung als auch in deutscher Synchronisierung kostenlos im Internet
anschauen.
Hier der Trailer, den es leider nur auf Englisch gibt:
Und der ganze Film auf Deutsch:
Die Reise als Entwicklungsprozess
Was bedeuten diese Konzepte nun für das Reisen, insbesondere
das langsame Reisen?
Wenn wir das Reisen nicht einfach als einen bestimmten
Zeitraum betrachten, den wir als Jahresurlaub bezeichnen und der einzig dem
Zweck dient, uns von unserem anstrengenden, weil als sinnlos empfundenen Alltag
zu erholen oder abzulenken, dann kann das Reisen zu einem integralen Teil
unseres ganz persönlichen Lebensweges werden. Es kann uns dabei helfen zu einem
gesunden Ganzen, einem einzigartigen Individuum zu werden. Wenn wir uns auf
eine wirklich intensive Reise begeben, die auch eine angemessen lange Zeitspanne
umfasst, dann gewinnen wir Abstand zu dem Leben, das wir führen und können
besser erkennen, ob das wirklich unser Leben ist oder ob wir bisher nur gelebt
haben, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Wir können unsere Werte überprüfen
und uns fragen, ob sie dazu beitragen ein wirklich glückliches, sinnerfülltes
Leben zu führen. Wir können schauen, wie Menschen in anderen Teilen der Welt
leben, nach welchen Werten sie leben und uns davon inspirieren lassen.
Außerdem hilft uns das Reisen dabei, mehr im Augenblick zu leben
und die Umwelt bewusster wahrzunehmen. In unserem gewohnten Umfeld neigen wir
oft dazu, automatisch zu funktionieren und uns für die kleinen und großen
Wunder, die ständig um uns herum geschehen, zu verschließen. Das langsame und
bewusste Reisen kann uns die Faszination für das Leben wiedergeben. In einer
fremden Umgebung sind wir viel aufmerksamer, nehmen alles intensiver wahr und
können wie kleine Kinder über das Wunder Leben staunen. Auf diese Weise entdecken
wir die Neugier für das Leben wieder. Wir werden uns auch bewusster über uns
selbst, unsere eigenen Hoffnungen und Wünsche. Längst vergessene Träume
gelangen so wieder an die Oberfläche. Die Distanz hilft zu begreifen, was uns im Leben wirklich
wichtig ist und ein wenig mehr zu verstehen, wer wir wirklich sind und warum wir
hier sind. Es ist faszinierend, was ein geschärftes Bewusstsein aufgrund der
veränderten, ungewohnten Umgebung bewirken kann. Wenn wir ganz großes Glück
haben, können wir die wiedergewonnene Faszination, Neugier und Bewunderung für
das Leben auch nach der Rückkehr beibehalten. Das sollte auch das Ziel sein,
denn die meisten von uns können und wollen nicht immer unterwegs sein, nicht
ständig mit Neuem konfrontiert werden. Und was am Anfang neu und aufregend ist,
wird irgendwann auch ermüdende Routine.
Das Reisen ist also insbesondere dann hilfreich, wenn wir
uns in unserem Leben festgefahren fühlen und nicht genau wissen, wie wir unsere
Situation verändern können und was genau wir eigentlich wollen. Für die meisten
Menschen ist das auch meist der Anlass für eine längere Reise. Intuitiv ahnen wir, dass uns der Abstand am ehesten weiterhelfen und unsere Fragen beantworten
wird. Nicht umsonst ist die Heldenreise ein so beliebtes Motiv in den
Geschichten der unterschiedlichsten Kulturen rund um den Globus. Wir alle
identifizieren uns mit ihr und wünschen uns, unsere tiefsten Ängste zu
überwinden, um unser volles Potential zu entfalten. Die physische Reise ist
dabei so hilfreich, weil sie uns zwingt, unser gewohntes Umfeld, unseren
natürlichen „Sicherheitsbereich“ zu verlassen. Oftmals erfordert eine lange
Reise, bestimmte Sicherheiten, z.B. den Job, aufzugeben. Häufig begeben wir uns
allein auf den Weg, was außerdem die beste und sicherste Methode ist, um sich wirklich
weiterzuentwickeln und mehr über sich selbst zu erfahren. Das erfordert Mut.
Aber ich glaube, dass uns das Leben für diesen Mut, die Überwindung unserer
Ängste immer belohnt. Wenn wir ein kleines bisschen Mut aufbringen und über
unseren eigenen Schatten springen, wird uns das Leben doppelt und dreifach dafür
belohnen. Zumindest ist das die Erfahrung, die ich vor allem mit dem allein
reisen bisher gemacht habe. Ich habe es allerdings nie als Mut empfunden,
sondern als Vertrauen. Ein tief verankertes Urvertrauen, dass mich das Leben
belohnen wird, wenn ich meiner Intuition und meinem
Herzen folge. Und so war es auch.
Ich glaube, gerade wenn wir mit einer ganz bestimmten Intention
reisen, z.B. die Antwort auf eine konkrete Frage suchen, haben wir die besten Chancen
fündig zu werden. Denn wenn wir einer ganz bestimmten Absicht folgen, werden wir Dinge, die damit in Verbindung stehen, anziehen. Wir werden
Personen begegnen, die uns neue Perspektiven auf das Gesuchte ermöglichen und Erfahrungen
machen, die uns neue Aspekte unserer Frage aufzeigen. Vielleicht haben wir am Ende keine eindeutige Antwort, aber doch
eine neue, frische Sicht auf das Gesuchte und zahlreiche Einsichten, auf die wir vorher nicht gekommen wären.
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